Über 330.000 Menschen, die mit- und nebeneinander leben, aus über 160 Nation: Das ist Neukölln. Der Bezirk, in dem ich seit knapp 10 Jahren lebe und in der unsere Tochter aufwächst. Der Bezirk, in dem alles gleichzeitig passiert: Bandenkriminalität, verfehlte Integration, nebeneinander existierende Parallelgesellschaften, marodierende Nazi-Banden, Mietenwahnsinn und Verdrängung, Glühwein-Strich in Zeiten der Pandemie, hipster’eske Touristenauswächse in Nord-Neukölln, Heimat für viele Menschen mit innerdeutschen und globaler Migrationsgeschichte. Neukölln ist unfassbar viel, immer zur selben Zeit, manchmal auch einfach zu viel.
Als Abschluss des Jahres haben sich René und ich in unserer letzten Doppelzett-Reportage 2020 durch einen Bezirk gewühlt, der vielschichtig und facettenreich ist. Ein Bezirk, der nicht nur durch Weserstraße, Sonnenallee und die Neukölln Arcaden geprägt ist, sondern eben auch für Rixdorf, Gropius-Stadt und die High-Deck-Siedlung steht. Ein Bezirk, der unglaublich eng und gleichzeitig sehr weitläufig ist, aber eben auch eine dicht besiedelte Innenstadt und Gewerbegebiete mit eigener Wasseranbindung hat.
Nah am Wasser gebaut
Nur wenige Gehminute von meiner Wohnung entfernt verläuft der Neuköllner Schifffahrtskanal. Er verbindet den Landwehrkanal von der Lohmühlenbrücke im Norden mit dem Teltow- sowie dem Britzer Verbindungskanal am Hafen Britz-Ost im Süden. Am Weigandufer auf der einen und am Kiehlufer auf der anderen Seite des Kanals kann man im Sommer während eines Spaziergangs oder einer Jogging-Runde die Ausflugsboote und manche Padelboote sehen. Spätestens ab der Teupitzer Brücke gelangt man dann in eine ganz sonderbare Grauzone in diesem Teil Neuköllns. Eine Art Niemandsland zwischen Kiehlufer und Dieselstraße: Abgemeldete und verlassene Autos am Straßenrand, dort unter freiem Himmel und an der Bahntrasse lebende Sinti und Roma, eingezäunte Parkplätze mit Unmengen an Gebrauchtwägen und die Großbaustelle der A100 am Rande der Schrebergartensiedlungen.
Eigentlich kaum vorstellbar, dass sich nur wenige hundert Meter weiter die Zigrastraße entlang eines der europaweit größten Hotelkomplexe befindet: das Estrel. 1.125 Zimmer verbergen sich in diesem Wunderding eines Hotels. Kaum zu glauben, dass am Ende einer von Autohöfen und eines Schrottplatzes am Neuköllner Schifffahrtskanal geprägten Straße Europas größtes Hotel-, Congress- und Entertainment-Center zu finden ist. Mit eigenem Bootsanleger an der Sonnenbrücke, einem vollbetonierten Biergarten am Wasser und direkt an der Sonnenallee, thront das Estrel über Neukölln. Das Hotel ist für Deutschland einmalig und passt mit seiner Individualität perfekt in diesen Bezirk. Von allem immer ein bisschen zu viel – gilt für Neukölln und das Estrel.
Davon wird es in wenigen Jahren sogar noch mehr geben. Auf dem großen Parkplatz gegenüber dem Estrel, auf der rechten Seite der Sonnenallee aus Richtung der Ringbahn, wird der Estrel Tower entstehen. Von den Architekten Barkow Leibinger geplant sind 50 Stockwerke, 800 Hotelzimmer und nicht weniger als das höchste Haus Berlins – und das höchste Hotel deutschlandweit. Klotzen statt kleckern, wie so häufig in diesem Bezirk.
Hafen Neukölln
Folgt man der Wasserstraße durch Neukölln gelangt man unweigerlich in den Hafen Neukölln. Dieser befindet sich zwischen der Grenzallee und der Lahnstraße. Er besteht aus dem Oberhafen und dem unterhalb der Schleuse Neukölln liegenden Unterhafen. Recycling-Hof reiht sich an Recycling-Hof. Dort haben René und ich auch einen sehr ruhigen Spot gefunden, um einige Aufnahmen im Rahmen der Kooperation mit Thokkthokk zu machen. Während die Möwen zu hören waren und das Wasser im Hafen plätscherte, sahen uns die Müllentsorger von Remondis von der anderen Hafenkante aus zu.
Die Grenzallee ist auch einer dieser sich wandelnden Orte in Neukölln. Es wird an allen Ecken gebaut, vor allem auf Grund der A100-Erweiterung. In Neukölln und dem angrenzenden Treptow liegt der Bauabschnitt 16, der2009 genehmigt wurden. Bis zum ersten Spatenstich dauerte es knapp 4 Jahre – und seitdem wird dieses automobile Mahnmal gebaut. Warum ich es „Mahnmal“ nenne? Berlin und vor allem auch Neukölln ist ein Hort der individuellen Mobilität. Das eigene Auto steht dabei leider immer noch im Zentrum, trotz gut ausgebautem ÖPNV (Grüße an die M41 und die Ringbahn) und vielen Sharing-Angeboten (Auto, Fahrrad, Lastenrad, Roller). Über protected bike lanes nach internationalem Vorbild wird vor allem viel gestritten und die wirklich gut gemeinten Pop-Up Bike Lanes während der Pandemie mussten zum Großteil wieder zurückgebaut werden. Was bleibt ist die Ausrichtung auf das Personenkraftfahrzeug.
Eine betonierte Schneise namens A100
Für diese Blechlawinen wurde eine betonierte Schneise durch den Bezirk geschlagen. Wie so häufig bei Großprojekten verschiebt sich auch hier Budget und Zeitrahmen. Mit anfänglich 400 Millionen Euro eingeplant werden die Kosten auf 600 Millionen Euro steigen. Die Fertigstellung verschiebt sich von 2021/2022 in das Jahr 2023, unter anderem auf Grund einer Neuausschreibung für den Brückenbau zur Ringbahn-Überführung nahe der Kiefholzstraße. Gegen den Ausbau haben sich kurz nach der Genehmigung bereits Bündnisse gegründet, die zu Demonstrationen auch mehrere Tausend Menschen mobilisieren konnten. Dabei ist der Bauabschnitt 16, aber auch der noch folgende Bauabschnitt 17 Zentrum der Kontroverse. Es gibt vor allem von Seiten DIE LINKE und Bündnis 90 / Die Grünen sowie einigen Bezirksbürgermeistern Kritik am Weiterbau der A100. Der Ausgang dieser mittlerweile auch politischen Posse: Ungewiss.
Hoch, tief, breit
Wird Neukölln im Norden und vor allem im Bereich zwischen Hermannplatz und Ringbahn stark von einer klassischen Innenstadtbebauung geprägt, so verläuft sich diese Stadtplanung im weiteren Verlauf der Sonnenallee bis hinter zum Baumschulenweg. Natürlich gibt es noch klassische Hochhäuser, wie an der Ecke Sonnenallee/Grenzallee. Doch dieses Bild wird komplettiert durch Flachbauten mit maximal 3 wie zum, Beispiel rund um den Von-der-Schulenburg samt Gebrüder-Grimm-Spieplatz an der Drosselbartstraße, Einfamilienhäusern wie etwa auf der Planetenstraße und innovativen Siedlungsprojekten wie der High-Deck-Siedlung.
6.000 Bewohnerinnen und Bewohner sind in der High-Deck-Siedlung heimisch. Das Besondere an dieser Siedlung ist die baulich-funktionale Trennung von Fußgängern und Autoverkehr. Die so genannten „High-Decks“ sind hochgelagerte, begrünte Wege, die die fünf- bis sechsgeschossigen Gebäude miteinander verbinden. 2.400 Wohnungen und mehr als 1.000 Stellplätze haben in diesem Areal Platz. Straßen und Garagen liegen unter den „High Decks“. Was Ende der 1970er Jahre noch innovativ gedacht wurde, scheiterte an der Realität. Damals waren die Wohnungen begehrt, vor allem aufgrund der Randlage im Westen Berlins. Unweit der Berliner Mauer und an der Grenze zu Treptow im Osten Berlins. Das ändet sich mit dem Fall der Mauer. Das gesamte Quartier verlor seine Grenzlage, büßte an Attraktivität ein und entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem bis heute aktiven sozialen Brennpunkt.
Kaffee und Tabak
Zwischen all diesem Wohnen und Leben in unterschiedlichen Formen und Weisen braucht die Industrie noch ihren Platz. Eingerahmt von Grenzallee, dem Britzer Verbindungskanal und dem Baumschulenweg habe sich Alois Dalmayr, Philipp Morris und Jacobs Douwe Egberts mit ihren Fabriken an der Neuköllnischen Allee niedergelassen. Ein Duft aus Tabak und Kaffee umweht René und mich, als wir durch die Straßen fuhren.
Über uns hält der Cowboy auf dem Philipp Morris Gebäude sein Lasso und komplettiert optisch diese Sammlung aus Fabrikgebäuden, kleinen Autohöfen und Werkstatten, Handwerksbetrieben und Einfamilienhäusern und Doppelhaushälften, die die besten Tage schon lange hinter sich gelassen haben. Einziger ökologischer Lichtblick: hier sitzt auch die Produktion des Märkischen Landbrotes. Wobei, ich dachte immer, das Märkische Landbrot käme tatsächlich vom Land?
Kleidung
René und ich schlossen unsere Runde an der Zigrastraße Ecke Dieselstraße. Am Restaurant Marin, bekannt für Fisch- und Fleischspezialitäten und aus der Serie 4BLOCKS, erhaschten wir noch die letzten Sonnenstrahlen an diesem kalten Tag.
An diesem Tag hatten wir für unsere Kooperationen mit Thokkthokk, Hafendieb und dem Greenpeace Magazin Warenhaus Kleidung im Gepäck:
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Fotos: René Zieger